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HUNGER NACH LEBEN

Offener Brief an die Parlamentarier_innen der eidgenössischen Räte

Liebe Parlamentarier_innen

Am Samstag, 20. März 2021 ist mein Geburtstag. Frühlingsanfang. Und Trauertag. Trauer über das nicht gelebte Leben. Ich gehöre zu den Menschen, für die dieses Land keinen Lebensraum bietet. Denn wir existieren nicht. Nicht für diese Gesellschaft: Schweizerin ohne Migrationshintergrund, Frau in der zweiten Hälfte des Erwachsenenlebens, 60plus, Lebensphase der Expertise. Alles Diskriminierungsgründe. Verdeckt natürlich, nicht nachweisbar. Nicht glaubhaft für viele. Denn was nicht sein darf, kann nicht sein. Immer noch. Trotz Corona. Es gibt keine sozialpsychologischen Probleme in diesem Land. Niemand fühlt sich einsam, sehnt sich danach, in die Arme genommen zu werden. Und dies nicht erst seit Corona.

 

Als Fünfjährige musste ich mir sagen: «Du bist ganz allein auf der Welt. Du musst selber zu dir schauen.» Kein Anspruch auf das Menschsein unter Menschen. Ich habe getan, was ich konnte. Habe nach Gymnasium-Verbot von Elternhaus und Kirche die Maturitätsschule für Erwachsene gemacht, an der Eliteuniversität ETH Zürich studiert. Auch wenn ich nicht willkommen war: «Frauen geht wieder, ihr habt sowieso keine Chancen auf einen Job.» Ich bin geblieben und Pionierin geworden: Erste Chefredaktorin im Agrarbereich in der Schweiz. Im 60-%-Pensum mit Kind. Dann Umstrukturierung. Jobs unter meinen Fähigkeiten. Ich war gut, machte jeden Job besser und effizienter als ich ihn angetreten hatte. Das wurde mir zum Verhängnis: Ich, ein hierarchieloses Würstchen, aber fachlich brillant, deswegen beliebt bei den Kund_Innen, wurde gemobbt von dem Geschäftsleitungsmitglied, das für die Kund_Innen zuständig war: «Ich will, dass diese Frau das Gesicht verliert.»

 

Nach drei Jahren Mobbing schaffte ich es nicht mehr vor 11 Uhr ins Büro. Der Hausarzt schrieb mich zu 50% krank. Kündigung nach einem halben Jahr. Das, was ich vermeiden wollte: Arbeitslos als 50plus. Nach 300 Bewerbungen und ebenso vielen Absagen: Ausgesteuert vom eigenen Staat – Lockdown: «Du bist ganz allein auf der Welt und musst selber zu dir schauen.» Nach zwei Jahren Theologie-Vollstudium an der Universität Zürich. Ich will Pfarrerin werden, sei jetzt schon eine gute Theologin, sagen die Leute. Nur die Kirchenfunktionär_Innen nicht. Sie wollen mich nicht, ekeln mich aus der Kirche mit Übergriffen auf die Persönlichkeit und Verweigerung des Gesprächs.

 

Seit September 2019 bin ich ganz ohne Einkommen. Die Arbeitslosenkasse, die auch Gewerkschaft ist, nimmt mich nicht. Weil ich als ausgesteuerte 60plus einen auf 10 Monate befristeten Job ergattert habe. Zwei Beitragsmonate würden mir fehlen. Auch das Sozialversicherungsgericht weist meine Beschwerde zurück. Denn das obligatorische Kirchenpraktikum, das ich mit viel Freude einen guten Job gemacht habe, wurde nicht entlöhnt. Also auch keine Abzüge. Und ich bin weder kriminell noch aus dem Ausland. So habe ich keine Integration verdient – lebenslänglich.

 

«Finden Sie einen Job für zwei Monate.» Natürlich, kein Problem. Als Frau, Schweizerin ohne Migrationshintergrund, gut gebildet, in der Lebensphase der Expertise. Da jährlich rund 80'000 Menschen in die Schweiz einwandern. Weil sie hier Arbeit finden. Da über 800'000 Menschen von 8 Millionen, die bereits im Land sind, sich überhaupt Arbeit wünschen oder ein höheres Pensum als sie schon haben. Da Frauen im Hinblick auf eine um ein Jahr frühere Pensionierung als Männer auch früher keine Chance mehr bekommen – just dann, wenn sie nach Gratis-Carearbeit für die Familie durchstarten möchten.

 

Keine Chance, zugeschlagene Türen, trotz aller Trümmerfrauenkreativität: Diskriminierung ein Leben lang aus Gründen, die gemäss Artikel 8 der Bundesverfassung verboten sind. Keine griffigen Gesetzgebung, die das regeln würde. Man könnte nicht meinen, dass Sie, National- und Ständerät_innen des Schweizer Parlaments die Judikative sind. Die gesetzgebende Gewalt, die in einem demokratischen Staat Politik betreibt, also den Staat im Sinn und Auftrag der darin lebenden Menschen regelt. Nicht die dem Menschen und seiner Lebenswelt Gewalt antut um der maroden Wirtschaft willen.

 

Der Mensch gehört in den Mittelpunkt aller politischen Bestrebungen. Da hat Ihre Wirtschaftshörigkeit und Ihr Materialismus von links nach rechts und entlang aller parteipolitischen Farben nichts verloren. Politik ist nicht Wirtschaftspolitik, sei sie noch so grün oder sozialdemokratisch. Politik ist Carepolitik für die Menschen und die Welt, in der sie leben. Politik ist stete Gesellschaftsentwicklung. Die Wirtschaft ist in eine Careökonomie umzubauen und hat dem Menschen zu dienen. Mit dem Manifest 2021 sind wir bereit, ein Corona-Gesetz zu verabschieden und eine AHV-Revision ins Auge zu fassen. Wobei: Die Pandemie diktiert ihre eigenen Regeln – es ist sowieso eine Farce, diese in eine Wirtschaftspolitik einbinden zu wollen! Denn die Pandemie an sich ist eine humanitäre Krise. Und sie demaskiert schonungslos die humanitäre Krise, die der gescheiterte Neoliberalismus spätestens in den 1990ern hervorrief. Richtig: Wirtschaftskrisen sind humanitär zu regeln, Pandemien sowieso. Das wäre dann Politik!

Freundliche Grüsse

ruthfloeder

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