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IN DER FEUERHÖLLE DES WOHLSTANDS DER ANDEREN

Ich habs getan: Ich bin zum nächsten Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) gefahren – 20km hin, 20km zurück. Der Gang zum Schafott. OK, man wird nicht gerade abgeschlachtet – eher einfach nur wie ein Trottel behandelt. Das reicht auch:

 

Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: Du sollst nicht töten! Wer aber tötet, der sei dem Gericht übergeben. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, sei dem Gericht übergeben. Und wer zu seinem Bruder sagt: Du Trottel, der sei dem Hohen Rat übergeben. Und wer sagt: Du Narr, der sei der Feuerhölle übergeben. (Matthäus 5, 21-22)

 

Das steht in der Bibel. Gemäss Matthäus-Evangelium hat Jesus in einer Bergpredigt die zehn Gebote neu ausgelegt. Von der Liebe geredet: «Liebe dich selbst zuerst und dann kannst du auch die anderen Menschen lieben.» Das ist sozialer Umgang: einander Raum und Zeit schenken. Luft zum Atmen. Zurückweisen, kündigen, entlassen, aussteuern aus dem Sozialsystem – nicht einmal die deutsche Hartz IV – das macht die Schweizer Gesellschaft mit den Menschen. Bevorzugt mit Frauen mit hoher Expertise, reifem Alter, Schweizerinnen ohne Migrationshintergrund: systematisch missachten und ihre Existenz in Frage stellen. Das ist töten.

 

Aber wir leben. Stellen Ansprüche: Den Anspruch auf autonome Lebensgestaltung und autonomen Lebensunterhalt zeit unseres Erwachsenenlebens. Solange wir wollen. Wie lange und in welchem Umfang ich mein gemäss Europäischer Menschenrechtskonvention zustehendes Recht auf Arbeit beanspruchen möchte, ist mein Entscheid und nicht derjenige von Gewerkschaften und Sozialdemokrat_innen – schon gar nicht derjenige der Wirtschaft. Die 1950 eingeführte Europäische Menschenrechtskonvention wurde 1974 von der Schweiz ratifiziert, Drei Jahre nach der Einführung des Frauenstimmrechts 1971. Die aktuelle Zwangspensionierung von Frauen mit 64 Jahren gegen ihren Willen, während Männer noch bis 65 arbeiten dürfen, ist nicht nur menschenrechtswidrig, sondern auch gemäss Bundesverfassung Artikel 8 Diskriminierung von Geschlecht und Alter. Da muss die Wirtschaft in die Pflicht genommen werden. Als Teil der Gesellschaft.

 

Fakt ist, dass sich die Wirtschaft seit den 1990ern in einer immer schneller drehenden Krisenspirale befindet und sich nur noch mit Krisenmanagement aufrecht erhält. Ihren Zweck, für die Menschen zu sorgen, hatte sie zwar schon immer verfehlt. Seit 1998 aber ist der zynische Umgang mit menschlichen Existenzen mit einem Schlagwort salonfähig geworden: «Krisenmanagement». Als am 2. September bei Halifax im kanadischen Hoheitsgebiet eine McDonnell-Douglas MD-11 der Swissair mit 215 Passagieren und 14 Besatzungsmitgliedern an Bord in den Atlantik stürzte. Ursache: Rauchentwicklung im Cockpit – wahrscheinlich Kurzschluss bei den Zuleitungen zum Instrumentarium des Cockpits. Die Isolierung einer Kupferleitung war gebrochen, das nicht wirklich feuerfeste Dämmmaterial begann zu schmoren. Das Feuer frass sich durch die Kanäle und legte nach und nach die Instrumente lahm. Pfusch bei der Materialwahl und bei der Fertigung also. Die fahrlässige Tötung einer grossen Zahl von Menschen hatte die ach so saubere Schweiz getroffen. Das löste Krisenstimmung auf Bundesebene aus. Betroffenheit. Nicht wegen der Fahrlässigkeit. Die Sensation von so vielen Toten mit Swiss Connection – es sollte ein Flug von New York nach Genf werden – liess sich nicht einfach unter den Tisch wischen.

 

Die Wirtschaft hat daraus gelernt: 229 Menschen sind Kollateralschaden. Da geht noch mehr. Am 29. Oktober 2018 sterben vor der Küste der Insel Java 189 Menschen und am 10. März 2019 nach dem Start einer 157 Menschen in Addis Abeba eine Boeing 737 MAX 8. Todesursache: Um der französischen Konkurrenz Airbus ein Schnippchen zu schlagen, schickt Boeing mit Unterstützung der US-amerikanischen Sicherheitsbehörde die Beta-Version eines vollelektronischen Trimmsystems in die Luft. Gemäss Wikipedia wird «Trimmung» in der Luftfahrt als das Ausrichten von Körpern in eine gewünschte Lage bezeichnet. Die Trimmkräfte sollen dabei die Kräfte ausgleichen, welche die Lage des Körpers verändern würden.

 

Amerikaner gegen die Franzosen. Das tönt nach Krieg. Im Spiel um Geld und Macht hat das Menschenleben keine Bedeutung. Bauernopfer. Kanonenfutter. «Krise» ist heute Gewinnrückgang – nicht Verlust, Grounding – nicht Konkurs, Flugverbot – nicht Totschlag. Beta-Versionen in die Luft schicken ist mehr als fahrlässig. Das ist vorsätzliche Tötung. Die Krise wird mit dem Zunder des sich anhäufenden Materials und Geldes, das niemand braucht, beim Köcheln gehalten. Mensch und Umwelt werden dafür instrumentalisiert und ausgebeutet. Die Politik – Regierungen, Parlamente und Stimmbürger erpresst: Jeder politische Entscheid wird heute dem Goldenen Kalb des Wirtschaftsliberalismus geopfert. Der Glanz des Geldes und des materiellen Wohlstands der anderen macht Menschen blind für die eigene Normalität.

 

Ich musste mir letztes Jahr vom Berater des RAV, einem Mann unter 45, unbesehen meiner Qualifikation und meiner Entscheidungen zu Lebensgestaltung und Lebensunterhalt auf den Kopf zu sagen lassen, dass ich in meinem Alter und als Frau keine Chance hätte. Sowieso, da ich ja noch ein Jahr früher pensioniert würde. Die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren sind eine kantonale Behörde, deren Mitarbeiter_innen mit dieser Haltung der Wirtschaft zudienen, damit diese nach Gutdünken Menschen ausbeuten und ausmustern kann. Ihnen die Existenz nehmen kann. Das Sozialsystem richtet sich längst gegen die Menschen und wird für Schutz und Erhalt der zum Standard erklärten Misswirtschaft ausgebeutet. Wie blöd muss man sein, um für den angeblichen «Erhalt von Arbeitsplätzen» abzustimmen statt um die Durchsetzung des Rechts auf bezahlte Arbeit und autonome Lebensgestaltung zu jedem Zeitpunkt des Erwachsenenlebens zu kämpfen – für Menschenwürde halt? Wie lange habe ich mich doch selber zum Trottel gemacht – dem Goldenen Kalb geglaubt?!

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